Sie stammt aus dem hohen Norden: Die Geschichte der Näherin Anja Gläser
Neumünster. Als sie in die Schwalestadt kam, war sie gerade 20
Jahre alt. Damals, im Jahr 1969, war Anja Gläser eine junge Frau, die noch einen Monat zuvor in Finnland auf die Berufsschule gegangen war und das Schneidern lernte. Doch dann bekam sie plötzlich ein Angebot aus Deutschland:
Der Textilhersteller Marsian suchte Arbeitskräfte – ob sich Anja ein Praktikum bei dem Unternehmen in Neumünster vorstellen
könnte?
Sie konnte. Wie zahlreiche andere Frauen ließ sich die Finnin von dem Angebot locken. So reiste sie einmal quer durch den Ostseeraum – bis sie in Travemünde erstmals deutschen Boden betrat. „Ich konnte damals genau zwei deutsche Sätze:
Ich liebe dich und Auf Wiedersehen“, erinnert sich die frische, junggebliebene Frau Ende 60 mit einem Lächeln zurück.
Die Liebe kam dazwischen
Jetzt, knapp 50 Jahre später, sitzt sie gemeinsam mit ihrer früheren Arbeitskollegin Jutta Petersen bei einem Kaffee im Café-Bistro bei Nortex. In dem Modehaus arbeiteten beide lange Jahre in der Änderungsschneiderei.
Anja Gläser denkt sich zurück in die Zeit damals, in Erlebnisse und Gefühle. „Ein Jahr wollte ich bleiben – aber dann kam die Liebe dazwischen“, schmunzelt sie. „Und dann kamen auch schon die Kinder.“
Die junge Frau aus Suomi, dem Land der Seen und Wälder, kam
damals frisch von der Berufsschule in Jyväskylä, ziemlich genau
in der Mitte Finnlands gelegen. Dort lebten die angehenden Schneiderinnen gemeinsam in einem Wohnheim, denn die Entfernungen zu den weit verstreuten Einzelgehöften und kleinen Dörfern in Finnland sind groß. Gläser stammt ursprünglich aus dem Ort Kuopio, rund 150 Kilometer weiter nordöstlich. „Aus dem ganzen Land wurden junge Arbeitskräfte abgeworben“, schildert sie.
Das Angebot von Marsian in Neumünster war attraktiv. Es
winkte ein fester Job, eine vergleichsweise gute Bezahlung – und mit Kino, Theater, Konzerten und Tanzlokalen auch kulturelle und soziale Abwechslung. „Nortex und Marsian, das waren zu der Zeit in Neumünster die größten Bekleidungsgeschäfte“, setzt Gläser hinzu. Sie und weitere 20 junge Frauen aus Finnland bezogen ihre Zimmer im Wohnheim.
Nach dem Ankommen ging es direkt los – Anja Gläser war zunächst für den Zuschnitt der Stoffe zuständig, „aber das wollte ich nicht für immer machen“, erinnert sie sich. Etwas später wechselte sie in die Schneiderei und Näherei. Begleitend mussten die Näherinnen zugleich die deutsche Sprache besser verstehen und sprechen lernen. Eine Anleiterin begleitete sie zunächst, wenn jemand zum Arzt musste oder ein Gang auf die Behörde anstand.
Einmal Schneiderin, immer Schneiderin
Anja Gläser schneidert und näht auch im Ruhestand – jetzt als kreatives Hobby
Die finnischen Frauen hielten eng zusammen, gingen gemeinsam arbeiten und abends auch einmal in die umliegenden Tanzlokale.
Da waren zum Beispiel die „Kupferkanne“ am Großflecken und auch das „Bella Vista“ am Kuhberg. Anja Gläser lernte ihren späteren Mann kennen – zugleich ließ aber das Gefühl der Zugehörigkeit unter den Suomi-Frauen nie wirklich nach. „Wir machen heute noch immer vieles zusammen, und einmal im Jahr wird gemeinsam Weihnachten gefeiert“, erzählt Gläser.
„Im Jahr 1976 war Schluss bei Marsian, da ist das Unternehmen in Konkurs gegangen“, erinnert sich Anja Gläser. Sie arbeitete danach bei anderen Textilbetrieben und zog die Kinder auf. Das ist lange her: Seit 1969 ist viel Zeit vergangen, in denen sich in der Textilbranche vieles verändert hat. „Es wird längst nicht mehr so viel ausgebildet wie früher, bei der Herrenschneiderei ist das besonders deutlich“, sagt Jutta Petersen. Sie ist 65 Jahre alt und hat gerade erst ihren letzten Arbeitstag bei Nortex gefeiert. Nun arbeitet sie wieder dort, als Aushilfe.
Zu denken gibt den beiden Frauen die Art der häufig verwendeten Stoffe. „Da sind viel mehr synthetische Fasern drin“, sagt Petersen. Auf der anderen Seite gebe es heute eine wesentlich größere Vielfalt an Textilien, auch an Schnitten, Mustern und Größen.
Ihre Freizeit verbringt Anja Gläser mit kreativen Projekten – sie näht beispielsweise kleine Schweinchen, in den Nationalfarben der Länder Europas. Mindestens einmal im Jahr fährt Anja Gläser noch immer in ihre frühere Heimat – im Sommer bezieht sie mit ihrem Mann ein kleines eigenes Haus mitten im Wald. Dort verbringen die beiden ihre Ferienzeit. „Wir gehen jeden Tag in die Sauna, auch viel in den Wald, etwa zum Blaubeeren- und Pilzesammeln“, so Gläser. Es ist Natur pur: Zwei Kilometer ist der nächste Briefkasten entfernt – genug Abstand, um die Seele baumeln zu lassen und etwas Abstand zu legen zwischen sich und die moderne Zivilisation mit ihrer Schnelllebigkeit und Hektik.
Trotzdem – ihre Zeit als Näherin bei Marsian und Nortex will Anja Gläser nicht missen: „Ich habe schon manchmal Heimweh gehabt damals“, sagt sie rückblickend. „Aber bereut habe ich es nie, nach Neumünster gekommen zu sein. „Es war eine schöne Zeit!“, sagen beide Frauen im Rückblick. (rüh)