„Der größte Kleiderschrank der Welt“

Mit Hi-Tech und menschlicher Erfahrung: Bei Digel, deutscher Premiumhersteller von Anzügen, werden Sakkos und Hosen des Baukastensystems auf exakte Farbgleichheit geprüft

Nagold. Hochwertige Anzüge und Freizeitbekleidung für Männer, erdacht und gemacht fast komplett in Deutschland und Europa: Jochen Digel führt das Familienunternehmen Digel in dritter Generation weiter. Im Interview erzählt er, was einen guten Anzug heute ausmacht – und wie es gelingt, Sakko und Hose des Baukastensystems im präzise gleichen Farbton anzubieten.

Jochen Digel führt das Familienunternehmen in Nagold weiter. Foto: Digel

Herr Digel, was tragen Sie jetzt gerade?

Jochen Digel: Einen Jersey-Anzug von Digel, blau. Dazu ein Strickteil, kein Hemd – das ist sozusagen mein ‚Casual Friday‘. Draußen ist ein richtig schöner Herbsttag hier in Nagold am Rand vom Schwarzwald, das passt.

Abgesehen vom Job – ziehen Sie privat gern mal einen Anzug an?

Privat ist der Anzug für mich, wie bei fast jedermann, eher eine anlassbezogene Wahl – wenn es die Festivität wie beispielsweise Hochzeit oder ähnliches hergibt. Privat findet sich in meinem Kleiderschrank mittlerweile aber auch ziemlich viel Bekleidung von Digel, da wir als Komplettanbieter den Mann auch in der Freizeit von Kopf bis Fuß ausstatten können. Wenn ich hier am Firmensitz in Nagold rübergehe in die Logistik, finde ich daher immer etwas im ‚Casual‘-Stil außerhalb vom Anzug. Wenn es nur um Kleidung von Digel ginge, wäre das wohl der größte Kleiderschrank der Welt (lacht).

Was macht für Sie einen guten Anzug aus?

Ich achte immer auf die Verarbeitungsqualität des Anzugs, das fängt fast schon automatisch beim kritischen Blick auf den Nachrichtensprecher im Fernsehen an. Die Qualität erkennt man gut an den Schultern, auch am Kragen: Hat der Anzug dort kleine Unregelmäßigkeiten oder liegt er schlank und gerade? Wichtig ist auch die Passform – ist der Ärmel zu lang oder zu kurz? Die Sprecher im TV machen es natürlich vergleichsweise gut…

Wofür steht ein Anzug generell in unserem Bewusstsein für Mode und Bekleidung?

Hochwertige Bekleidung: Zwei Digel-Anzüge aus dem Nortex-Sortiment. Foto: Nortex

Man(n) und auch Frau verbindet mit einem Anzug Hochwertigkeit. Ein Anzug ist immer etwas Ausgesuchtes, Gehobenes, sei es für den Job oder für den Anlass. Zum einen ist die Herstellung sehr aufwändig, mit vielen Arbeitsschritten und Produktionsminuten, zum anderen werden eher hochwertige Materialien verarbeitet. Das macht am Ende den im Verhältnis zu anderer Bekleidung teureren Preis aus.

Tragen heute mehr oder weniger Menschen einen Anzug?

Das wird definitiv weniger. Der Trend geht zur ‚Casualisierung‘, das heißt, es wird eher bequeme Freizeitkleidung getragen. Ein Anzug bietet nur bedingt Bequemlichkeit. Wenn man sich dagegen Bilder von früher ansieht, hatten Schüler und Lehrer stets Anzüge an, im Straßenbild trugen alle einen Anzug, dann gab es noch den Sonntagsanzug, speziell für die Kirche. Gibt’s heute alles nicht mehr: Das „blaue Wunder“, also die Jeans, hat damals dazu beigetragen, dass Stoffhosen und damit auch Anzüge stark rückläufig wurden. Trotzdem hat fast jeder Mann noch einen Anzug im Schrank – und manche tragen ihn bis heute als eine Art Business-Uniform, zum Beispiel Politiker, Bänker und Versicherungsleute.

Welche Trends gibt es bei Schnitten, Stoffen, Farben?

Foto: Digel

Interessanterweise war der Markt vor Corona relativ „blau“: Von zehn verkauften Anzügen waren bei uns sechs blau, zwei schwarz, einer grau, einer andersfarbig und alles eher dunkel. Seit der Pandemie hat sich das Farbspektrum gedreht: Nach wie vor ist Blau die stärkste Farbe, aber auch Grün ist derzeit stark, braun wird wieder wichtiger und generell darf es wieder heller sein, zum Beispiel beige. Man ist experimentierfreudig, die Naturtöne sind im Kommen und machen die Farbpalette interessanter.

Beim Schnitt hat sich gar nicht so viel verändert – die Passform „Slim Fit“ mit zwei Knöpfen bleibt angesagt, „Modern Fit“ und „Comfort Fit“ sind mittlerweile etwas mehr tailliert und enger anliegend. Die richtig weiten Formen sind beim Anzug noch nicht wieder dran, sondern generell ist der Trend weiterhin körperbetont.

Wie reagiert Digel auf diese Trends?

Unser Produktmanagement mit zehn Personen kümmert sich unter anderem auf Trendmessen darum, dass unser Unternehmen hier immer auf dem Laufenden bleibt. Oberstoffmessen in München, Mailand und Paris. Dort kaufen wir die Stoffe, die uns unsere Anbieter anbieten – denn wir selbst haben ja keine Schafherde oder Tuchfabrik.

Gibt es Innovationen, die die Anzugmode in der kommenden Zeit prägen werden?

Ich denke, technische Qualitäten und Stretch-Anteile im Stoff und der Verarbeitung werden die eher klassischen Stoffe ablösen. Die Bequemlichkeit, die der Stretch-Anteil mit sich bringt, will man nicht mehr missen. Früher war alles sehr stabil bei den Anzügen; heute merken wir, dass Wolle-Stretch-Mischungen gefragter sind. Gewebe mit Wolle, Polyester und Lycra sind ein bisschen stabiler. Dabei bietet Polyester den Vorteil, dass man damit sehr viele Eigenschaften „modellieren“ kann: So lässt sich der Stoff härter, weicher, kälter, wärmer oder robuster gestalten. Das bietet sehr viel Spielraum und wertet den Anzug eher auf, nicht ab.

Foto: Digel

Wie entsteht eigentlich ein Sakko – gibt es ein globales Zusammenspiel dabei?

Wir produzieren fast ausschließlich in Europa, den Großteil in zwei eigenen Werken in Polen und der Türkei. Ungefähr die Hälfte unseres Umsatzes wird in unseren eigenen Werken hergestellt. Wir machen momentan über 2000 Anzüge pro Tag. Insgesamt gehören etwa 1200 Mitarbeiter zu unserer Firma, zudem beschäftigen wir in etwa nochmal so viele Menschen über Aufträge, die wir bei Produktionspartnern platzieren – teils seit über 20 Jahren.

Das große Glück für uns war, dass wir in den letzten Jahren eigentlich stetig gewachsen sind: So konnten wir in der Produktion bleiben, auch dort, wo sie uns nicht selbst gehört. Dann kommt hinzu, dass der Baukasten einen guten Lauf hatte, da sind auch Partner wie Nortex mit uns gewachsen.

Wird das Sakko in verschiedenen Werken zusammengestellt?

Fertigung von Digel-Bekleidung im Werk in Izmir in der Türkei. Foto: Digel

Nein, ein Sakko entsteht in einem Werk, aber wir produzieren den gleichen Artikel in mehreren Werken. In jedem Anzug gibt es ein „Made in“-Etikett, insofern kann der Kunde nachschauen, woher das Produkt kommt. Das heißt, wenn man bei Nortex in mehrere Sakkos der Größe 50 hineinsieht, kann es sein, dass in einem „Made in Turkey“, im nächsten „Made in Bosnia“ und im dritten „Made in Poland“ drinsteht. Wir versuchen, auf einmal mindestens 500 Stück desselben Kleidungsstücks zu produzieren, in unterschiedlichen Farben und Stoffen.

Digel bietet Hosen und Sakkos auch einzeln an; das ist der sogenannte Baukasten. Wie funktioniert es, dass stets der gleiche Farbton getroffen wird?

Die Schafswolle kommt aus Südafrika, Australien oder Europa. So kann sie sich bei der Färbung schon mal eine Nuance anders verhalten, etwa durch die verschiedene Nahrung der Tiere. Je nachdem, wann der Stoff gefertigt wurde, sieht der eine Ballen dann ein bisschen heller und der andere, der acht Monate später gefertigt wurde, ein bisschen dunkler aus. Wenn bei Nortex nun ein Sakko in der Größe 64 verkauft wurde, die Hose aber nicht, dann liefern wir das Sakko nach. Natürlich muss es farblich passen – das ist die Herausforderung.

Bevor wir Stoffe verarbeiten, prüfen wir deshalb kleine Probeabschnitte des Stoffballens darauf, ob die Rohware wirklich farbgleich ist zu der Fertigware, die wir schon verarbeitet haben. Dazu gibt es Lichtkästen, in denen unterschiedliche Lichtbedingungen nachgeahmt werden können: Dort bewerten sowohl Maschinen als auch Spezialisten, ob die Farbnuance die gleiche ist oder nicht. Dieses Qualitätsmanagement ist aufwändig und kann nur funktionieren, weil auch die Rohwarenverarbeitung hier in Nagold stattfindet. Aber auf diese Weise können wir auch nach Jahren garantieren, dass die Anzughose und das Sakko farbgleich sind.

Bekommen Sie dazu auch mal ein Feedback, Lob oder Kritik von den Kunden?

Absolut. Wir betreiben auch eigene Geschäfte, insofern pflegen wir den Kontakt zu den Konsumenten. Über den Facheinzelhandel bekommen wir regelmäßig ein Feedback zu unseren Produkten und Vorschläge zu Weiterentwicklungen. Und wir sind in den sozialen Medien unterwegs: Bei Facebook zum Beispiel haben wir rund 75.000 Follower, auch auf Instagram sind wir zu finden – da kriegen wir auch schon mal die eine oder andere Meinung gesagt, wenn wir etwas gut oder weniger gut machen. Einfach mal vorbeischauen.

Beraterin Christina Sanders und Einkaufsleiter Thorsten Guckel präsentieren das Digel-Angebot bei Nortex. Foto: Nortex

Digel und Nortex – was macht diese Beziehung aus Ihrer Sicht aus?

Ich denke, hier treffen zwei starke Familienunternehmen mit gleichen Werten zusammen, die eine hohe Wertschätzung füreinander hegen. Kleines Beispiel: Unser Werk in Izmir in der Türkei haben Ingrid und Kai Först von der Nortex-Geschäftsführung direkt nach dem Start besucht – um mal zu schauen, wie es bei uns aussieht und ob es ordentlich ist, was wir da machen. Das fand ich toll, dieses Sich-kümmern über den Tellerrand hinaus. Das macht ein Familienunternehmen wie Nortex aus.

Wie gestaltet sich aktuell die Situation bei den Lieferketten?

Wir leiden noch. Ein Anzug besteht aus relativ vielen Komponenten, mehr als in jedem anderen textilen Produkt. Da ist ein Schulterpolster drin, ein Innen-, Bund- und Hosenfutter, Knöpfe, Reißverschlüsse, ein Vlies. Die Teile kommen aus Deutschland, Portugal und Italien nach Nagold, wie ein Riesenpuzzle. Wir sortieren es, schicken es dann per Lkw in die Produktion. Von dort kommt der fertige Anzug zurück.

Die Lücken in der Lieferkette machen uns zu schaffen, wir können unsere Kunden nicht so beliefern, wie es uns vorschwebt. Unsere Stoffe haben eine Lieferzeit von drei bis acht Monaten. Inzwischen spielt auch die Rohwarenverfügbarkeit eine Rolle, ebenso wie die Verfügbarkeit von Energie bei unseren Lieferanten. Erst Pandemie, jetzt Energiekrise: Es wird nicht weniger mit den Herausforderungen, sondern bleibt schwierig.

Stichwort Nachhaltigkeit: Wie hat sich das Unternehmen hier aufgestellt?

Unter anderem pflanzen wir für jeden verkauften Anzug einen Baum, immerhin schon über eine Million Bäume. Da arbeiten wir mit dem Unternehmen „Eden Projects“ zusammen: Gepflanzt wird vor allem, wo der Regenwald bereits stark abgeholzt wurde. Dort wachsen die Bäume gut, zudem können durch die Entwaldung verarmte Familien beschäftigt werden und sich um die Pflanzung kümmern.

Daneben nutzen wir über unsere Photovoltaik-Anlagen unseren eigenen Strom. Auch haben wir feste Richtlinien, welche Materialien wir einsetzen: Unsere Kleiderbügel sind beispielsweise nur aus recyceltem Plastik hergestellt. Künftig wollen wir noch vermehrt auf nachhaltige Materialien und Produktionen umstellen, wobei bei uns das wichtigste Rohmaterial die Wolle ist – und die ist per se immer nachhaltig, weil sie ja immer wieder nachwächst.

Wie hat die Pandemie Ihr Unternehmen beeinflusst?

Corona hat uns hart getroffen. Wir haben ungeplant fast 50 Prozent des Umsatzes in 2020 und 2021 verloren. Es gab keine Festivitäten, der Anzug war weder zu Anlässen noch im Homeoffice dran. Das trifft einen dann doch wie aus heiterem Himmel, wenn man auf einmal nur noch die Hälfte von dem in der Kasse hat, was früher mal da war.

Trotzdem ist es uns gelungen, über 95 Prozent der Arbeitsplätze zu erhalten, da auch der deutsche Staat mit Kurzarbeit oder Überbrückungshilfe zur Stelle war. Natürlich hat es uns als Unternehmen trotzdem sehr viel Geld gekostet, welches wir die nächsten Jahre erst mühsam wieder erwirtschaften müssen. Gleichzeitig waren die Nachholeffekte in 2022 klasse: Damit haben wir uns fast wieder auf das Vorkrisen-Niveau von 2019 erholt, das bei uns ein Rekordjahr war. So sehen wir positiv in die Zukunft.

Aufs Stichwort: Welchen Kurs steuert Digel für die kommenden Jahre?

Derzeit trägt uns die Mode rund um den Anzug. Dort kommen wir her, als mein Großvater Gustav Digel das Unternehmen vor über 80 Jahren als kleines Garagenunternehmen gegründet hat, und dies wird auch in Zukunft fester Bestandteil unseres Portfolios bleiben. Zugleich verkaufen wir immer mehr Chinos, Jeans, Hemden, Jacken und Strickteile für den Mann. Mäntel und Schuhe sind heute wichtige Bestandteile unseres Sortiments und mittlerweile tragende Umsatzsäulen neben dem Sakko und dem Anzug.

Wenn Ihre Gedanken mal nicht um Digel kreisen – welche Hobbies pflegen Sie in Ihrer Freizeit?

Meine Frau und ich haben drei Jungs und einen Hund, da sind die Freizeitaktivitäten eher familiär geprägt (lacht). Das geht von Querflöte-Üben über Pfadfinder-Treffen bis hin zu diversen Sportaktivitäten wie Schwimmen, Kinderturnen, Tennis oder Handball. Und Skifahren lernt man bei uns im Winter von kleinauf: Wir haben recht kurze Wege zu schönen Skigebieten. Außerdem spielen meine Frau und ich Tennis und sind gern mit unserem Vierbeiner in der Natur unterwegs. Das größte Hobby, denke ich, ist aber das Reisen, sei es mit dem Wohnmobil oder dem Flugzeug, in Europa oder auch in Länder außerhalb Europas. Vor Kurzem waren wir auf Sylt, als Nächstes ist ein Backpacker-Urlaub in Thailand geplant.