Benimm ist stets gefragt

Lübeck. Was ist eigentlich gutes Benehmen? Wann bin ich höflich – und was tun, wenn ich mir in einer privaten oder beruflichen Situation plötzlich unsicher darüber bin? Darauf weiß Marlies Smits zu antworten: Gemeinsam mit ihrem Mann Gerhard unterstützt die „Benehmensberaterin“ Menschen dabei, ihre Umgangsformen zu verbessern. Im Interview gibt sie einen Einblick in ihre Arbeit.
Frau Smits, sind die Deutschen heute höflicher oder unhöflicher als vor zehn Jahren?
Aus meiner Sicht verflacht das Thema Höflichkeit. Heute sind an vielen Stellen die Hierarchien weniger stark ausgeprägt, sodass manche meinen, höflich zu sein wäre nicht mehr angebracht. Ich arbeite zum Beispiel viel mit Auszubildenden – die wissen eigentlich genau, was es bedeutet, höflich miteinander umzugehen. Aber es gibt häufig Situationen, in denen sie das ausblenden. Das Ego steht heute mehr im Vordergrund: Es ist bequemer für mich, die Regeln außer acht zu lassen, die Ellenbogen auszufahren und zu sagen: ‚Jetzt bin aber mal ich dran!‘ Wenn man allerdings Umfragen glauben darf, ist Eltern auch heute noch ausgesprochen wichtig, dass ihre Kinder höflich miteinander umgehen.
Woher mag das Ausblenden höflichen Verhaltens kommen?
Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es der Zeitgeist? Die eigene Persönlichkeit steht im Vordergrund, auf Rücksicht verzichtet man heute eher. Dabei höre ich aus allen Ecken, dass man höflicher miteinander umgehen müsse. Doch heute leisten sich manche Übergriffigkeiten, die vor 20 Jahren gar nicht vorgekommen wären: etwa, sich ungefragt zu jemandem an den Tisch zu setzen. Oder man nimmt im Theater oder im Flieger seinen Platz ein, ohne zu grüßen – hier findet Höflichkeit teils gar nicht mehr statt! Dabei ist ein Gruß so etwas wie eine Erlaubnis, dass man sich den Luftraum teilt. Schließlich verbringt man ja eine ganze Zeit miteinander.
In welchen Situationen sind die Menschen am häufigsten unsicher?
In Begrüßungssituationen zum Beispiel. Also: Wem reiche ich die Hand zuerst? Wer muss zuerst grüßen? Die richtige Lösung hat mit den Rangfolgen zu tun: Im Job spielt immer die berufliche Position die erste Geige, alles andere hat weniger zu sagen. Der Chef entscheidet beispielsweise, ob ein Handschlag stattfindet. Auf dem gesellschaftlichen Parkett ist das Alter ausschlaggebend. Und da wiederum nur eine ganze Generation des Altersunterschieds – es spielt also keine Rolle, ob einer drei, fünf oder sieben Jahre älter ist als ich. Dann ist das Prinzip ‚Ladies First‘ bei vielen Menschen wie festgetackert im Gehirn – auch da gibt es echte Unsicherheiten: So hat diese Regel etwa im Geschäftsleben keine Relevanz.“

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Und wie sieht es bei den Tischsitten aus – etwa bei einer Feier im edlen Restaurant?
Ihr Brotteller ist der, der auf der linken Seite steht, den müssen Sie verteidigen! (lacht) Man isst von außen nach innen, das äußerste Besteck ist also als erstes dran. Und achten Sie darauf, keine Brücken zu bauen: Messer, Gabel und Löffel werden nicht schräg am Teller abgelegt, sondern auf dem Teller. Benutztes Besteck berührt die Tischdecke nicht wieder! Das werden sie tausendfach im Restaurant falsch sehen – ein Klassiker bei den sehr traditionell gebliebenen Tischsitten. Die gelten übrigens immer noch als Gradmesser für die Qualität der Kinderstube.
Wer legt so etwas eigentlich fest?
Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es ein klares Regelwerk, dass man nach dem Krieg auf den Prüfstand gestellt hat. Dabei hat sich im Laufe der Zeit herauskristallisiert: die Menschen wollen keine Regeln, sondern es geht darum, abzuschätzen: wie ist eine Situation – und wie verhalte ich mich entsprechend? Aber natürlich braucht man einen Fahrplan: dazu gibt es die Empfehlungen des Arbeitskreises ‚Umgangsformen international‘, der deutschen Knigge-Gesellschaft, des Knigge-Rats und der Vereinigung der Etikette-Trainer.

Je Kultur erlaubt: Leere Teller, schlürfen und rülpsen

In einer globalisierten Welt spielt Etikette auch international eine zunehmend wichtige Rolle. Welche Unterschiede und Befindlichkeiten gibt es da?
Schlürfen und Rülpsen etwa sind Dinge, die in Asien durchaus üblich sind, bei uns aber als unhöflich aufgefasst werden. Andersherum ist es, wenn man den Teller vollständig leer isst: Das wird im asiatischen und übrigens auch im osteuropäischen Raum so gedeutet, dass man nicht satt geworden ist.
Was macht man in so einem Fall – sich den jeweiligen Ländersitten anpassen?
Man informiert sich auf jeden Fall, und ich würde tatsächlich einen Anstandsrest auf dem Teller liegen lassen. Allerdings würde ich es nicht übers Herz bringen, schlürfend und rülpsend mein Essen zu mir zu nehmen. Und das wird auch akzeptiert: denn die Gastgeber wissen ja, dass man aus einem anderen Kulturkreis kommt.
Gibt es innerhalb Deutschlands regionale Unterschiede?
Eher nicht. In Bayern wäre es ein Sakrileg, Knödel-Klöße zu schneiden – aber das ist in Norddeutschland genauso, es gibt sie hier bei uns nur nicht so häufig. Als Begrüßungsformel stehen beispielsweise ‚Grüß Gott‘ und ‚Moin‘ auf einer Stufe. Man sollte es allerdings auch so verwenden, dass es in die Region passt: ein Bayer darf gern mit einem ‚Moin‘ in Ostfriesland unterwegs sein, ein Kieler kann in München mit einem ‚Grüß Gott‘ durchaus Pluspunkte sammeln.
In Bezug auf das Corona-Virus – welche Sitten sollten die Bürger hier beherzigen?
Inzwischen ist allen klar, dass man keine Hände schütteln darf. Das heißt aber auch, dass ich ganz besonders darauf achte, dass ich die Menschen angucke, wenn ich ‚Hallo‘ sage! Der Blickkontakt spielt jetzt eine desto größere Rolle. Dass man die Nies- und Hust-Etikette einhalten sollte, ist auch klar: in die linke Ellenbeuge niesen oder husten, sehr sensibel mit der Hygiene verfahren und etwa nach dem Naseputzen die Tücher nicht herumliegen lassen. Die Menschen reagieren insgesamt sehr unterschiedlich, manche sind sehr ängstlich. Auch hier muss man respektvoll miteinander umgehen und jedem seine persönliche Art zugestehen.
Was liegt Ihnen als Benimmtrainerin besonders am Herzen?
Gutes Benehmen ist etwas, das mir sehr wichtig ist. Ich bezeichne mich gern als Benehmensberaterin, eine eigene Wortschöpfung. Die Beratung ist etwas, was ich mache, weil ich möchte, dass die Menschen gut miteinander zurecht kommen und ein Gespür für eine bestimmte Situation entwickeln. Denn ich kann die Regeln, die sich für das gesellschaftliche Miteinander ergeben haben, noch so gut kennen: Wenn ich merke, dass der Mensch mir gegenüber sich unsicher oder unwohl fühlt, dann lasse ich so eine Regel einfach ausfallen.

Hilfsbereitschaft ist jetzt ein ganz großer Punkt!

Es geht darum, nicht mit einem Tunnelblick durch die Welt zu laufen. Ein gutes Beispiel sind die ‚Hinz&Kunzt‘-Verkäufer, die ihre Straßenzeitung anbieten: Natürlich kann ich nicht jedem eine Zeitung abkaufen, aber durchaus ein freundliches Lächeln schenken, anstatt die Person einfach zu ignorieren. Das ist gerade in so extremen Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, wichtig: Hilfsbereitschaft ist jetzt ein ganz großer Punkt!
Sie setzen sich also dem anfangs genannten Ellenbogen-Trend entgegen?
Ja, unbedingt! Ich merke derzeit, dass das Verständnis untereinander, das Miteinander in dieser Zeit uns dazu bringt, mehr darauf zu achten, wie es dem anderen geht. Wenn das beibehalten wird, gibt es wenigstens ein wenig Positives, dass die Corona-Krise mit sich bringt.
Weitere Informationen zum Thema Höflichkeit und gutes Benehmen finden sich unter anderem im Internet auf www.knigge-rat.de und www.deutsche-knigge-gesellschaft.de. Marlies Smits ist via www.benehmensberatung.com sowie unter Telefon 04102/612 66 erreichbar.